Schwerin zeigt Gesicht


Wie jedes Jahr mache ich mich zur Woche der Seelischen Gesundheit auf den Weg. Dieses Mal führt es mich nach Schwerin.

In diesem Jahr ist der freiraum e.V. für die „Tage der seelischen Gesundheit Schwerin“ mit dem Thema „Alles außer gewöhnlich“ mit einigen Kooperationspartnern verantwortlich.

Engagierte Menschen setzen sich mit dem Thema „psychische Erkrankung“ auseinander und wie es mir auffällt auch mit dem Weg hinaus aus dem Düsteren - hin zur seelischen Gesundheit - aus verschiedenen Blickwinkeln. Es gibt Lesungen, Diskussionsrunden, Bewegungsangebote, Filme, Theater, Musik und Ausstellungen. Alle Sinne und Emotionen werden angesprochen.

Nach 25 Jahren schreibender Verarbeitung einer schizo-affektiven Erkrankung und vielen Lesungen ist immer noch etwas Unruhe und Aufgeregtheit in mir. Abends nach einem Theaterstück werde ich mit einem Psychiater und der Übersetzerin des Theaterstückes über den Wahnsinn und die Kreativität sprechen. Podiumsdiskussion nennt sich das.

Weil die Veranstaltung in der Stadt stattfindet, in der ich aufgewachsen bin, begegnen mir alte, wohlgesonnene Gesichter. Das Theaterstück der Autorin Tove Ditlevsen mit dem Titel „Gesichter“ wirkt auf die zahlreichen Besucher der Spielstätte M*Halle des Mecklenburgischen Staatstheaters etwas beunruhigend.

Tove Ditlevsen ist eine Meisterin der autofiktionalen Literatur. Ihr großes biografisches Werk, die Kopenhagen Trilogie, erschien erst 2021 in vollständiger deutscher Übersetzung und sorgte als literarische Entdeckung hierzulande für Furore. Alice Buddeberg bringt „Gesichter“ erstmals auf eine deutsche Bühne.

In eine geschlossene Abteilung einer Psychiatrischen Klinik wird man hinein versetzt. Eine tief verzweifelte Hauptdarstellerin halluziniert zwischen rauchenden Psychiatern in ihrem Wahn. Und das erstaunlich echt aussehend und fühlend. Am Publikum erfährt man dieses Beunruhigende. Nach der Vorstellung äußern manche das beklemmend Erlebte.

Das Theaterstück entstammt dem eigenen Leben der dänischen Autorin. Wie sie sagte, stellte das Schreiben nicht selten eine lebensrettende Maßnahme dar: Schreibend verarbeitete sie ihre eigenen seelischen Krisen und Psychiatrieaufenthalte.

Die Hauptfigur Lise glaubt Stimmen zu hören und die Gesichter geliebter Menschen erscheinen ihr zunehmend als beängstigende Fratzen. Eine Überdosis Tabletten bringt sie schließlich in die Psychiatrie. Doch ist der Wahnsinn wirklich etwas, vor dem sie sich fürchten muss oder bietet er womöglich das rettende Refugium, nach dem sie sich so sehr sehnt?

In meinen Augen geht es in „Gesichter“ um die Wirklichkeit. Wo liegt diese und wo beginnt Wahnsinn und Krankheit? Gibt es Grauzonen? Verschwimmt vieles? Mir selbst fällt im Theaterstück auf, dass auch ich als Betroffener nicht genau weiß wo diese Grenzen verlaufen. Ich denke an meine schweren Zeiten, in denen ich selbst Angst hatte für verrückt erklärt zu werden. Die Ängste vergiftet zu werden, in die Fänge der Psychiatrie zu geraten.

Wo ist die Wirklichkeit? Bestimmen wir als Betroffene das? Wer sind die Anderen? Wie können wir uns schützen?

Nach diesem aufregenden Theaterstück sitzen wir drei Eingeladenen mit der Moderatorin Charlotte Schön in roten Sesseln auf der Bühne: Prof. Dr. Andreas Broocks, Psychiater und Ärztlicher Direktor der Schweriner Flemming-Klinik, Ursel Allenstein, Übersetzerin und Ditlevsen-Expertin und ich, selbst Autor, der gegen seine psychische Erkrankung anschreibt.

In lockerer Runde geht es um den eigenen Bezug zu den psychischen Erkrankungen. Wer wie oft ins Theater geht, ist die erste Frage. Nach Corona ist es eher ein längerer Weg in ein Theater zu gehen. Ich ging früher oft ins Theater um für das Schreiben meiner Theaterstücke zu lernen.

Bemerkenswert schildert die Übersetzerin und Kennerin des Theaterstückes, Ursel Allenstein von ihrer Arbeit. Auch sie spricht von der Unmittelbarkeit der Darstellung des Wahnes der Protagonistin - wie es auch in der Sprache erfahrbar ist und als würde es auf den Betrachter übergreifen.

Welche Symptome sichtbar werden auf der Bühne, wird Professor Broocks gefragt. Eine Menge, lautet seine Antwort. Er erzählt von seiner Arbeit in der Psychiatrischen Klink. Man habe Zeit für die Patienten. Das Einstellen auf wirksame Medikamente dauert, bis die richtige Dosis erreicht ist.

Sport ist das Spezialgebiet von Professor Broocks. Sport hat eine positive Wirkung auf psychisch erkrankte Menschen.

So auch das Schreiben, füge ich an. Mit einer schizo-affektiven Erkrankung, 20 Klinikaufenthalten und drei Suizidversuchen habe ich mir schreibend geholfen. Erst als Selbsttherapie, heute mit sechs Büchern und zwei Theaterstücken helfend und mutmachend. Seit zehn Jahren ohne psychische Episode, verheiratet, mein 11jähriger Sohn, in Vollzeit als Technischer Zeichner tätig. Das macht Mut. Viele Menschen sind von psychischen Erkrankungen betroffen. Jeden kann es treffen.

Wir drei betonen, dass es Stigmatisierungen in der Gesellschaft gibt. Das Verbrechen, das sofort mit einem psychisch Erkrankten in Verbindung gebracht wir. Vorurteile und Unwissen. Für Erkrankte ist der Weg zurück auf den ersten Arbeitsplatz schwer.

Wann ist man wieder gesund? Ursel Allenstein spricht von der Hauptfigur Lise aus „Gesichter“. Ihr Verrücktsein ist selbst inszeniert und auch andere werden damit manipuliert. Dadurch gewinnt sie die eigene Unabhängigkeit zurück und findet einen Weg aus der Klinik. Als ich gefragt werde, antworte ich, dass man wieder gesund ist, wenn man ohne Vorbehalte wieder lachen kann.

Ursel Allenstein sagt noch, dass die größte Herausforderung für sie in der emotionalen Dringlichkeit von Ditlevsens Schreiben liegt, der man sich kaum entziehen kann.

Es geht auch um Klischees. Die dargestellte bedrohliche Szenerie der Psychiatrie und der Symptome im Theaterstück. Das Stimmenhören. Hören wir nicht alle Stimmen jeden Tag auf den lauten Straßen?

Aus dem Publikum wird wegen der Versorgung der Bevölkerung bezüglich der psychischen Erkrankungen gefragt. Manche Patienten warten monatelang auf Termine beim Psychologen. Manch einem kommt die Behandlung zu oberflächlich und schnell vor. Aber wir leben in einem Land mit einem guten Gesundheitssystem.

Bei einem Büfett im Anschluss kommt einiges zur Sprache. Für mich ist dieses Thema noch längst nicht zuende. Es muss noch viel Mut gemacht werden.

 

Hartmut Haker

                                                                                                                      Ratzeburg, im Oktober 2023

Der Ratzeburger Autor Hartmut Haker ist seit über 20 Jahren an einer schizo-affektiven Erkrankung erkrankt. Auch durch das Schreiben und Lesungen halten lebt er heute ein lebenswertes Leben mit Familie und Beruf. Seine schreibende Tätigkeit soll anderen Betroffenen nicht nur Mut machen, sondern auch aufklären und entstigmatisieren.