Kraft und Geduld

 

Heute am 13. Oktober 2024 bin ich in Schwerin zu meiner Lesung im Café Kränzchen zu den Tagen der Seelischen Gesundheit. Sonntagsmatinee wird das an diesem Sonntagvormittag genannt. Es gibt Kaffee und Waffeln, frisch hergestellt. Der Freiraum e.V. hat interessante Tage gestaltet. Mit Vorträgen zum Thema „Arbeit und psychische Erkrankung“, einem Psychoseseminar, ein Familiensportfest und als Abschluss ein Theaterstück. Es kommen einige Zuhörer zu meiner Lesung.

Mit meinen Büchern reise ich seit 25 Jahren durch unser Land, halte Lesungen, um Mut zuzusprechen und psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren. In dieser langen Zeit ist mein Antrieb gleichmäßig geblieben, ich habe mit meinem Anliegen nicht aufgegeben. Sieben Bücher und zwei Theaterstücke sind entstanden, teilweise autobiographisch.

Auch wenn sich im Bereich der psychischen Erkrankung einiges bewegt, ist Aufklärungsarbeit wichtig. Man hört, dass diese Erkrankungen zunehmen. In einem Artikel lese ich, dass in den vergangenen zehn Jahren die Fehltage von ArbeitnehmerInnen aufgrund psychischer Erkrankungen um 52 Prozent gestiegen sind. Das Leid der Betroffenen ist nicht weniger geworden.

In Schwerin bin ich aufgewachsen. Hier kennen einige mich und meine Bücher. Es ist trotzdem ein bewegendes Gefühl sozusagen zurückzukehren an den Anbeginn meiner schizo-affektiven Erkrankung. Wie lebe ich, nun seit 30 Jahren erkrankt, wie ein Gesunder mit Arbeit, verheiratet und meinem 12-jährigen Sohn? Die letzten zehn Jahre ohne weitere Episoden.

Arbeit war in meinem Leben ein wichtiger Faktor. Schon früh berichtete ich in meinen Lesungen von den Faktoren eines guten Lebens: Liebe, Sicherheit, Gottvertrauen und eine Beschäftigung, die man mag. Immer arbeitete ich, trotz einiger Rückschl.ge, in Ingenieurbüros in Schwerin, Stuttgart, Hamburg und jetzt in Ratzeburg. Die Chefs und Kollegen wussten und wissen von meiner Erkrankung. Wenn eine Lesung war oder ein Buch von mir erschien, lasen sie die Zeitungsmeldungen. Ein Chef von mir war auch bei einer meiner Lesungen. Einmal, als ich länger krank war, sagte der Chef, er habe einen Cousin und eine Tante, die auch eine psychische Erkrankung haben.

Wie erlebe ich in meinem Umfeld das Problemfeld „Arbeit und psychische Erkrankung“? Zuerst sehe ich die Spannung zwischen der Schwäche eines Betroffenen und dem Stress. Kann der Betroffene etwas gegen den Stress tun? Es gibt sicher Arbeitsstellen mit weniger Stress. Bei meiner Arbeit habe ich wenig Kundenkontakt. Ich arbeite am Rechner, vieles wird am Telefon und per E-mail geregelt. Ab und zu gibt es Besprechungen oder Baustellenbesuche. Bei manchen Arbeitsstellen geht es nicht. Das Arbeitsleben sollte für Betroffene so eingerichtet werden, dass der Arbeitsplatz eher ruhiger eingerichtet wird. Offenheit finde ich gut. Es sollten alle wissen, was los ist. Auch bei körperlichen Erkrankungen wird offen über alles gesprochen. Man kann sich gemeinsam Gedanken machen, wie es für alle gut ist. Damit würden auch Berührungs.ngste und Stigmatisierungen entfallen. Jeder könnte sich einbringen – ist das aus heutiger Sicht machbar?

Welchen Rat gebe ich Betroffenen? Was kann unter den heutigen Bedingungen ein Betroffener tun? Auswählen könnte er, eher den nicht so belastenden Job nehmen. Aber besteht überhaupt diese Auswahl? Auch daran denken, dass andere Kollegen ebenso Probleme haben – auch körperlicher Natur.

Was hilft mir beim Durchstehen all der Anforderungen? Wichtig ist es, jeden Tag zu bewältigen, auch die nicht so guten. Das eigene Einteilen hilft. Sich schon am Vorabend den Tag strukturieren. Was kann ich in einer schwächeren Phase auch mal auf den nächsten Tag verschieben? Nicht alles muss sofort bewältigt werden. Mit einem guten Freund oder auch dem Arzt darüber sprechen. Einen längeren Spaziergang oder einen Ausflug mit der Familie unternehmen.

Vor allem ist eine Anerkennung jedes Menschen eine wichtige Sache. Jeder hat das Recht auf eine freie Entfaltung der Persönlichkeit. Jeder Betroffene hat seine Rechte. Ein angemessenes Arbeitsverhältnis sollte es sein, Konflikte müssen gelöst, auch Arbeitszeiten überdacht werden. Es gibt Modelle, die ausprobiert werden.

Viele sprechen auch von der Stigmatisierung. Eventuell sprechen Kollegen abwertend über einen Betroffenen. Es gibt dabei auch den Begriff der „Selbststigmatisierung“ – durch das ständige Kreisen der eigenen Gedanken im Kopf können viele Konstrukte entstehen.

Die Arbeit füllt einen großen Teil unseres Lebens aus. Von der Arbeit müssen wir uns ernähren. Wir sollten uns auch hier wohl fühlen und weiterentwickeln können. Ich war damals mit 20 Jahren auf dem Weg ein Jurist zu werden. Später absolvierte ich eine Umschulung und wurde Bauzeichner. Eine Tätigkeit, die mich weniger fordert und strukturierter ist. Ich bin froh, nun diesen technischen Beruf ausüben zu können.

Aus dem Publikum bei dieser Lesung in dem gemütlichen Café kommen Fragen. Vor allem, wie ich die ganzen Jahre trotz der Rückschl.ge meine Vollzeitarbeit erhalten konnte. Ich erwidere, dass meine Familie mich unterstützte. Auch mit dem „Hamburger Modell“ zum Wiedereinstieg in die Arbeit kam ich gut zurecht. Eine Zuhörerin spricht auf von einem schwierigen Umgang mit Psychiatern und Gutachtern. Damit habe ich noch keine Erfahrung gehabt. Meistens wurden schon während meiner Klinikaufenthalte die Weichen gestellt. Alles wurde gemeinsam besprochen.

Allen Betroffenen wünsche ich Kraft und Geduld! Es gibt ihn, den Weg für jeden von uns!

Hartmut Haker 
Ratzeburg, im Oktober 2024